Que aventura - Lasses (Ex-)Blinddarm

Que aventura!

Die ganze Nacht hat Lasse Bauchschmerzen, wir schlafen kaum, auch am nächsten Morgen wird es, nachdem er sich mehrfach übergeben hat, nicht besser. Zum Glück gibt es in Los Antiguos ein winziges Hospital, das sieben Tage die Woche offen hat. Schon die Krankenschwester an der Anmeldung sieht Lasse an, wie schlecht er sich fühlt, versucht gar nicht erst groß mit uns Spanisch zu reden, sondern klärt mit großen deutlichen Gesten die Symptome ab. Wir kommen mehr oder weniger direkt dran, der Arzt tastet den Bauch ab und zieht sehr schnell eine Blinddarmentzündung in Betracht. Ich hoffe immer noch, es ist nur Luft, so wie wir es schon zweimal hatten, doch der Arzt bleibt sich treu. Mit viel Spanisch, von dem wir wenig verstehen, aber wohl das Entscheidende, macht er uns klar, dass er eine Blutuntersuchung machen lassen will. Lasse quält sich total, ist beim Blutabnehmen in einem anderen Raum, wo er auf einer Liege mit Wolldecke liegt und einer zweiten fürsorglich zugedeckt wird, tapfer und hat weiterhin Schmerzen. Nach der Blutentnahme sind die Ärzte der Meinung, sie wollen die Diagnose unbedingt absichern. Damit die schwierige Kommunikation, die nur extrem langsam möglich ist und nur Rudimente übermittelt, wird der 14jährige Sohn des MTA, Ramiro, herbeigerufen, der fließend Englisch spricht und alles für uns übersetzt. Ein ganz netter, hilfsbereiter  Kerl, der seit zehn Jahren Englisch bei einer Amerikanerin lernt, schon lange Zeit Französisch und seit zwei Monaten Deutsch jeweils bei Muttersprachlern lernt. Seine Hilfe in diesem Moment ist Gold wert, weil wir so auch unsere Gedanken noch einmal besser zum Ausdruck bringen können. Verstanden zu werden tut einfach gut!

Das Ergebnis bleibt gleich, Lasse und ich müssen mit einem Krankenwagen in das 250 Kilometer entfernte Las Heras mitten in der Pampa fahren, Hans und Liska mit unserem Auto hinterher - keine Widerrede, so schwer es fällt.

Was ein Stress! Hatten wir gerade die Öde der Pampa hinter uns gelassen, hieß es nun unter völlig bitteren Umständen sie erneut viele Kilometer zu durchfahren, in Sorge um Lasse, viele Gedanken und Überlegungen im Kopf, lassen wir ein Kind in einem argentinischen Krankenhaus operieren? Vertrauen wir den argentinischen Ärzten? Der Diagnose, egal, wie sie ausfällt? Dazu das so sehr leidende Kind in den klapprigen Krankenwagen, dessen Ausstattung nicht vollkommen überzeugen kann. Auch dass der erste Stopp nach etwa fünf Minuten (Hans sagt, es war nach einer halben Stunde) an einer Tankstelle erfolgt, lässt uns durchaus schlucken. Doch bereits zu diesem Zeitpunkt sind wir völlig ausgeliefert und können nur noch vertrauensvoll und optimistisch hoffen. Zum Glück läuft die Straße gut, es ist fast kein Verkehr, die Geschwindigkeit, mit der wir durch die Weite scheppern, hoffentlich tut die Rappelei nicht noch zusätzlich weh. Lasse dämmert vor sich hin, hängt seit Los Antiguos bereits am Tropf, hat tierischen Durst und ist verzweifelt, dass er nichts trinken darf. Immer wieder fragt er, ob Papa und Liska noch hinter uns seien - so wichtig, auch jetzt zusammen zu bleiben, das ganze, was immer es sein wird, gemeinsam zu bewältigen.

Kurz nach der herbeigesehnten Ankunft in Las Heras biegt der Krankenwagen auf eine Schotterpiste ab und wir erreichen das Krankenhaus. Der Fahrer und die Schwester heben Lasse mit der Trage aus dem Wagen, vergessen dabei den Tropf und wenn ich sie nicht aufmerksam gemacht hätte... ohje... 

Im Krankenhaus ist außer Wachleuten keiner da, wir warten mit der Schwester und dem Fahrer... und warten... irgendwann kommt ein Arzt und plötzlich ist auch ein Pfleger da. Beide sprechen gar nichts außer Spanisch. Der Arzt macht einen sehr sympathischen Eindruck und lässt mir jede Zeit, die spanischen Worte zusammenzusammeln, die es benötigt, um möglichst genau den bisherigen Schmerzverlauf zu schildern. Er hört sehr genau hin, spricht und erklärt gnadenlos purem Spanisch, nur langsamer, mein großer Vorteil hier ist die Kenntnis vieler medizinischer Fachtermini, das lässt mich immer wieder Entscheidendes verstehen, die Zusammenhänge basteln wir selbst und hoffen, dass das stimmt. Darum bleiben wir unserer Taktik aus Los Antiguos treu: jede Untersuchung, jeden Schritt machen wir gemeinsam und schmeißen alles, was wir verstehen, in einen gemeinsamen Pott. Der Pfleger und auch die Wachleute tippen ständig Wichtiges in den google-Übersetzer ein, zeigen uns ihr Handy und helfen, wo sie nur können, damit wir verstehen. Irgendwann verabschieden sich die Schwester und der Fahrer aus Los Antiguos herzlich. Dazwischen untersucht der Arzt genau und er ist sich schnell sicher: Appendicitis! Wir alle sehen Lasses Gesicht bei den typischen Blinddarmpunkten. Ich will es nicht wahrhaben, die Diagnose des Arztes ist eindeutig, er lässt sich nicht abbringen, erklärt uns, wie groß das Risiko ist, nicht zu operieren und noch einmal zeigt und erklärt er uns, Lasses schmerzverzerrtes Gesicht, wenn er an der richtigen Stelle drückt und loslässt. Also OP, noch heute, in etwas mehr als einer Stunde. Wollen wir Lasse in diesem Krankenhaus wirklich operieren lassen? Keine andere Möglichkeit... hoffen und vertrauen. Tausend Gedanken und Fragen und wenig Chance, sie zu formulieren. Dann plötzlich ein Mann, der Deutsch kann. Naja, letztlich kaum mehr als wir Spanisch, irgendwie nervt er mehr, als dass er hilft. Doch ihn frage ich, ob es möglich ist, dass ich bei Lasse bleibe. Eine andere Wahl hätte es für das Krankenhaus auch nicht gegeben, da hätten sie mich schon mit mehreren Leuten raustragen müssen - aber es war vollkommen klar, dass das geht und dass das letztlich die einzig sinnvolle Möglichkeit ist. Genauso klar ist diesen vielen hilfsbereiten Menschen um uns herum, dass Hans und Liska auch irgendwo bleiben müssen. Man einigt sich, dass das Hotel Meraki die Adresse der Wahl ist und der Krankenwagenfahrer des Krankenhauses fährt Hans mit einem Krankenwagen - andere Autos standen halt nicht zur Verfügung - zum Hotel, drei Blocks weiter. Liska und ich bleiben bei Lasse und der OP-Vorbereitung. Alle geben sich weiterhin alle Mühe uns alles zu erklären, gemeinsam geht es irgendwie.

Ich unterschreibe eine Einwilligung in die OP (glaube ich zumindest), von der ich kein einziges Wort verstanden habe und schlicht nicht die Ruhe habe, es für mich wenigstens halbwegs zu übersetzen. Was soll es schon anderes sein als genau das? Und es sollte unsere einzige Unterschrift bleiben, derer es bedurfte. Wenn ich so überlege, wie viele Zettel für Liskas Ellbogen unterschrieben habe...

Hans kam aus dem Hotel zurück, hatte ein Zimmer für sich und Liska und einen zweiten Eindruck von der Hässlichkeit der Stadt und der Freundlichkeit der Menschen. Die Frau aus dem Hotel hat ihn kurzerhand mit dem Auto zurück zum Krankenhaus gebracht.

Eine sehr nette Krankenschwester bereitet Lasse auf die OP vor, spricht selbstverständlich mit mir Spanisch ohne Ende, langsam und immer in gutem Kontakt, formuliert zweimal, dreimal unterschiedlich, bis wir beide der Meinung sind, dass ich es verstanden habe. Liska hilft tatkräftig  bei der Entschlüsselung. Jonathan, der Krankenpfleger, tippt permanent weiter alles in den google-Übersetzer und hilft, wenn es gar nicht mehr weitergeht, sofort.

Ein anderer Arzt kommt, in Jeans und T-Shirt, als Arzt nur am Stethoskop erkennbar, auch super freundlich, bemüht, langsam sprechend - der Kardiologe, der sich über Lasses kleinen Herzschlag wundert, alles abklärt und sein Okay gibt.

Allmählich haben wir uns mit der OP abgefunden, der Stress wird geringfügig weniger, Hauptsache, es wird endlich 19 Uhr und die OP beginnt. Bereits etwas früher kommt der Chirurg, versucht mir irgendetwas zu erklären, die Pfleger legen Lasse um und der Arzt nimmt mich alleine mit. Ich verstehe gar nichts, laufe hinterher.

Er zeigt mir, wo Lasse operiert wird, wo ich warten kann und dass er anschließend zu mir kommt und mit mir spricht. Als Lasse mit seinem Bett kommt, sind Hans und Liska auch dabei. An der Tür zum OP taucht eine Ärztin auf, die mir über Lasses Bett hinweg   irgendwie zig Fragen stellt, von denen ich keine verstehe bzw sie meine Antworten nicht. Egal. Sie nehmen Lasse mit und wir warten - gefühlt endlos... die OP sollte eine Stunde dauern und ich habe mich immer wieder gefragt, was machen die eine ganze Stunde lang, ich dachte immer, eine Blinddarm-OP sei eine kurze Routine-OP... tausend Gedanken, Gespräche, Fragen untereinander während wir warten. Nach einer guten Stunde kommt der Arzt strahlend aus dem OP und präsentiert uns stolz in der Nierenschale Lasses Blinddarm und erklärt anhand des offensichtlichen Anschauungsobjektes noch einmal, wie wichtig die OP war. Kurze Zeit später zeigen sie uns in der Tür zum OP Lasse, der bereits wieder wach ist, auch wenn er sich später an diesen Moment nicht mehr erinnern kann.

Sie bringen ihn wenig später tatsächlich in ein Einzelzimmer mit baño privado. Alles sehr einfach und etwas runtergekommen, aber okay. Hans und Liska fahren noch das Notwendigste einkaufen, um sich und mich zu versorgen, seit dem Frühstück hatte eigentlich keiner von uns mehr etwas gegessen. Dann verabschieden sie sich in ihr Hotel, ich sitzliege in einem Stuhl an Lasses Bett. Zum Glück schläft er einfach tief und ich nicke auch immer wieder ein. Eine super liebe Krankenschwester war direkt zu Anfang da und hielt mir nur ihr Handy mit dem google-Übersetzer vor die Nase: "Ich bin Krankenschwester und bis 22 Uhr im Dienst." Irgendwann sehr spät schaut auch der Arzt noch einmal nach Lasse, der einfach nur glücklich ist, dass seine Bauchschmerzen weg sind. Der Arzt sorgt dafür, dass ich das zweite Bett bekomme, kurbelt selbst noch mit der Handkurbel eine ebene Liegefläche für mich und beauftragt die Schwestern, es zu beziehen. Deutlich bequemer und besser verbringe nun auch ich die erste Nacht in einem argentinischen Krankenhaus.

Gekoppelt mit der Idee und der Überlegung und gleichzeitig mit einem schlechten Gewissen Sven Hower, unseren Kinderarzt, zu kontaktieren und mir kompetente und deutschsprachige Hilfe zu holen. Und er hilft! Bereitwillig, ausführlich, spontan, zu jeder Uhrzeit, zu jeder Frage... das Procedere ist zunächst schwierig. Ich frage per Whatsapp, habe aber im Krankenhaus kein Wlan, also nehmen Hans und Liska bei einer ihrer zahlreichen Servicetouren zwischen Hotel, Krankenhaus und Supermarkt immer wieder mein Handy mit zu einem WLAN-Punkt, wo sich meine Fragen und Nachrichten verschicken, und warten auf die unglaublich schnellen, zuverlässigen und so sehr hilfreichen Antworten, die sie mir wieder ins Krankenhaus bringen. Für diese unglaubliche Hilfe bin ich so unfassbar dankbar.

Das Krankenhaus versorgt mich vollkommen selbstverständlich zu jeder Mahlzeit mit, zunächst bekomme sogar nur ich etwas, Lasse erst später. Das Essen einfach, vielleicht landestypisch, für Lasse diätisch, mit Suppe, frisch gekochtem Schongemüse und Nachtisch und das mittags und abends. Da kann man wirklich nicht meckern! Der Arzt kommt regelmäßig, die Schwestern ständig, geputzt wird auch zweimal am Tag mit - dem Geruch nach zu urteilen - 10 Liter Chlor. Okay, der Tropfständer von Lasse hat eine kaputte Feststellschraube und rutscht immer mal runter, beim "Rollen" dreht sich kein einziges Rad, der Esstisch passt nicht wirklich übers Bett, ist aus dunklem Holz und man kann ihn in der Mitte hochklappen, dann hat man einen Waschtisch mit Spiegel... erinnert irgendwie an Großmutters Zeiten, ist lustig, ein Stück mehr Argentinien von innen und Teil des Abenteuers.

So verbringen Lasse und ich zwei Tage im Krankenhaus, ich lese vor gegen die Langeweile, aber er schläft viel, dann lese ich selbst. Doch tatsächlich stellt der Arzt am Sonntag in Aussicht,  Lasse am Montag zu entlassen. Und das geht am Montag weit schneller, als wir für möglich gehalten hätten. Als Hans und Liska gegen 10 Uhr kommen, sitzen Lasse und ich bereits auf "gepackten Koffern"...

Dann beginnt der administrative Teil und der Versuch, die Rechnung des Krankenhauses zu bezahlen. Doch das ist eine andere Geschichte...

Ich will nur so viel verraten: die ganze OP mit allem drum und dran hat 900Euro gekostet, das EKG 3,50Euro...