La Paz


Morgens holt uns Gert ab, als wir voll im Stress sind. Welche Wertsachen nehmen wir mit, welche nicht? In allen großen Städten haben wir alle Wertsachen in den Safes der Hotels gelassen und sind nach Möglichkeit ohne Rucksack losgezogen. Heute nehmen wir zwei für Wasserflaschen und Pullover mit. Und der Plan ist, wenn es irgendwie möglich sein wird, mit Gert bei Mapfre eine Autoversicherung für Peru zu kaufen, aber wir haben nicht alles, was wir brauchen - Chaos, ein guter erster Eindruck.

Doch dann geht's los. Gert besorgt ein Taxi an der Straße, was wir aufgrund aller Warnungen schon nicht getan hätten, Hans sitzt vorne, wir anderen drei hinten, Gert im Kofferraum, die Anschnallgurte funktionieren alle nicht. Das Taxi bringt uns zur Talstation der grünen Seilbahn, schon jetzt erzählt Gert uns jede Menge u.a. über die verschiedenen Stadtteile von La Paz. Eine Millionen Einwohner in der Südstadt, eine Millionen auf dem Alto, Tendenz steigend. Unten wohnen tendenziell die Reicheren, weil es da wärmer und weniger windig ist. Mit der grünen Seilbahn fahren wir von 3200 Metern auf 4200 Meter auf den Alto und bekommen einen tollen ersten Eindruck von oben, was sich bei zahlreichen weiteren Seilbahnfahrten mit den verschiedenen Linien den ganzen Tag immer wieder auf unterschiedlichen Routen wiederholt. Eine unglaublich gute Art, ganz viel von La Paz zu sehen, wie dicht es bebaut ist, wie die Menschen in den unterschiedlichen Bereichen leben, können wir doch von oben in Straßen, Höfe, Gassen, Dächer, Dachterrassen, Gärten einfach hineinschauen, ohne uns in dieser Höhe allzu viel selbst bewegen zu müssen. Und Gert erzählt, erzählt, erzählt, über die Kriege Boliviens, über das Trauma, keinen Zugang mehr zum Meer zu haben, über die Vor- und Nachteile der Evo-Regierung und die Veränderung des Präsidenten im Laufe seiner langen Regierungszeit, wir vergleichen das mit der langen Regierungszeit von Angela Merkel, diskutieren die unterschiedlichen Verfassungen und sind alle froh, dass Trump nur einmal wieder gewählt werden kann. In all sein  Faktenwissen baut er persönliche Geschichten ein, wie er zum Beispiel früher die Todesstraße in die Yungas gefahren ist, uns stockt der Atem, einen Absturz eines Autos hat er auch miterlebt, uns stockt noch mehr der Atem...

Er führt uns über den Hexenmarkt, wo an unzähligen Ständen Frauen alle nur denkbaren Zutaten für Opferschalen und Heilungen verkaufen, ein buntes Gewirr und Gemisch einschließlich der Lamaföten, die u.a. in jedes bolivianische Haus eingemauert werden, damit kein Unglück über das Haus hereinbricht. Zum Teil kennt Gert die Frauen persönlich, hier ein Schwätzchen, dort ein Schwätzchen oder ein kleiner Einkauf, dazwischen zahlreiche Infos, Erklärungen, Geschichten für uns - wir kommen kaum vorwärts. Zahlreiche Yatiris (Schamanen) haben ihre Gesprächsräume an der Straße, davor immer eine Opferschale, in einigen wird irgend etwas Mysteriöses verbrannt. Um eine Schale laufen drei Männer mit geschüttelten Bierflaschen herum und verspritzen großzügig das Bier, besonders auf die Erde zugunsten von Panchamama, der Göttin der Erde.

Lasse kann die vielen, vielen befremdlichen Lamaföten und anderen toten Tiere nicht mehr aushalten und wir verlassen den Markt. Zwischen einigen bolivianisch-normalen Obst- und Gemüseständen laufen wir die Straße lang und Lasse entdeckt ein Lokal mit Grillhähnchen. Mittagspause, aber nicht Info- und Erzählpause. Wir erfahren nebenbei von zwei Filmen und einer Serie, in denen Gert mitgespielt hat, da ihn kurz zuvor eine Frau, die Kokoswasser verkauft, ihn als den Gringo aus einem der beiden Filme erkannt hat und ihm einen Becher Kokoswasser geschenkt hat.

Nach der Pause ziehen wir über den Hyper-Giga-Straßenmarkt, auf dem es alles - und alles meint wirklich alles - zu kaufen gibt. Fragt sich nur, was es wo gibt. Kennt man sich nicht aus, hat man keine Chance.  Der Markt zieht sich kilometerlang die Hauptstraße lang, aber auch durch alle Nebenstraßen - später fahren wir ihn noch einmal mit der Seilbahn ein längeres Stück ab und schauen uns dieses Treiben von oben an. Dieses öffentliche Verkehrsmittel, das errichtet wurde, um die Straßen vom Autoverkehr zu entlasten, ist einfach genial.

Mit einer anderen Linie fahren wir hinunter in die vermeintliche Innenstadt, laufen durch eine schöne Gasse der Kolonialzeit, besuchen Gerts "amiga von der Sonneninsel", eine Cholita in einem kleinen Laden, in dem sie die Tracht der Cholitas erklärt: vier bis fünf Unterröcke, der sich wie eine Blume öffnende Überrock, die teuren handgefertigten Tücher, der Schmuck, der bei Festen von einem Leibwächter bewacht wird und der Hut, der tatsächlich nicht am Kopf befestigt ist, sondern balanciert werden muss. Liebevoll flicht sie Liska entsprechend die Haare, be- oder verkleidet sie mit Tuch und Hut, und wir alle haben wieder eine Menge Neues erfahren.

Anschließend vorbei am Theater zur Plaza Murilla mit seinen Regierungsgebäuden, zu jedem kennt Gert eine spannende Geschichte. Und dann schnell ein paar Straßen weiter - zur Versicherung. Gert kennt eine andere Versicherung und eine Frau, die dort arbeitet, die dann auch noch zufällig da ist und ihn herzlich begrüßt. Ausfüllen einiger Formulare, Unterschrift vom Chef, Bezahlung an der Kasse - und wir haben eine Versicherung (!), die eigentlich bei der geringen Deckungshöhe eher einer Einreisegenehmigung gleichkommt, die uns den weit schöneren Weg über Copacabana ermöglicht. 

In einem tollen Cafè erholen wir uns ein bisschen, die Infos und Erzählungen fließen jedoch auch hier weiter. Platt sind wir zu diesem Zeitpunkt wohl schon alle, doch Liska will unbedingt die Gefängnisstadt San Pedro sehen.

Gert macht ein Angebot: noch einmal mit einer Seilbahn ein anderes Stück von oben und dann runter in die Nähe des Gefängnis. So machen wir es. In den Straßen ist es inzwischen viel voller, überall drängeln sich die Menschen, überall sitzen die Cholitas aller Altersklassen und verkaufen irgendetwas, sei es Klopapier, Kaktusfeigen, Wackelpudding oder Mützen... das Alter der Bolivianer zu schätzen ist  unmöglich, sie sind alle klein, viele geradezu winzig, die dunkle Haut oft faltig, die Zähne schwarz oder nicht mehr vorhanden, viele sehen vermutlich deutlich älter aus, als sie sind.

Über einen schönen beleuchteten Platz erreichen wir die Gefängnismauer mit dem Haupteingang. Das Tragische und auch das Außergewöhnliche, das Makaber-faszinierende dieses Gefängnisses ist es, dass die Gefangenen sich quasi selbst verwalten und das natürlich auf unmenschliche Art und Weise nach dem Recht des Stärkeren - schlicht ein Verstoß gegen die Menschenrechte, was Gert in vielen Details und auch hier mit viel Wissen um die damit verbundenen  Grausamkeiten lebendig werden lässt. 

Einmal gehen wir drumherum, bestaunen neben den vielen Erzählungen die enormen Wände und sehen die Tür, durch die die Frauen das Essen bringen und sehen auch die Seite, an der die Schnapsbuden stehen und wo die Ausbrecher versuchen, sich durchzugraben - eben im Schutz der Buden.

Danach schaffen wir mit letzter Kraft die letzten Abfahrten mit der Seilbahn mit Aussicht auf das nun beleuchtete La Paz und die Taxifahrt zurück, bevor wir uns dankbar von Gert verabschieden und  vollkommen erschöpft ins Zelt steigen. Was für ein großartiger und ungewöhnlicher Tag.